Freitag, 9. September 2016

Der letzte Schultag

Heute war er also. Der letzte Schultag an der Tokyo Gakkan Urayasu Senior High School als Austauschschülerin, als Repräsentantin aus Deutschland, als nicht richtiges Familienmitglied auf Zeit in der Familie Misuno. Als unglücklichste Person der Welt gerade.
Heute war also einer der schlimmsten Tage meines bisherigen Lebens. Sich bei allen verabschieden. Das Leben, welches man sich hier hart aufgebaut hat, loszulassen. In drei Tagen wieder zurück in Deutschland zu sein. Wie ich mich fühle, ist klar. Total sauer und auch sehr traurig. So ist meine Gefühlslage übrigens schon seit mehreren Tagen, denn ich fühle mich so machtlos. Ich kann gar nichts ändern, niemanden mehr umstimmen, mich doch hier zu behalten. Sie alle wollen, dass die Austauschschülerin Celin in Japan nicht mehr existiert. Na gut, ich gebe wirklich nach. Es ist zwecklos und ich mache mich dadurch nur fertiger, als ich es schon bin. Ihr habt gewonnen.
So, genug schlechte Stimmung verbreitet. Nun zum heutigen Tag. Da ich gerade alles, was ich heute erlebt habe, schon in mein Tagebuch aus Papier geschrieben habe, teile ich dessen Inhalt einfach direkt mit euch, denn ich habe keine Lust, jetzt noch einmal alles zu erzählen und die Sätze von neuem zu formulieren. Es fällt mir gerade einfach wirklich extrem schwer, etwas diesbezüglich zu sagen, jedoch habe ich mir selbst zur Aufgabe gemacht, hier alles niederzuschreiben. Als Erinnerung an alles für mich selbst.

Ab hier direkt aus meinem Tagebuch

Heute fand dann also der Tag statt, den ich lange fürchtete, auf den ich mich aber auch freute: mein letzter Schultag an der Tokyo Gakkan Urayasu Senior High School. Ich stand etwas früher auf, damit ich so vieles wie möglich von meinem letzten Tag an meiner Schule filmen konnte.
Es fand ganz früh am Morgen gegen 5:22 Uhr übrigens wieder ein Erdbeben statt, dessen Ursprung direkt in meiner Stadt lag.
Ich filmte so gut wie alles - vom Aufstehen bis hin zum Fertigmachen, Zähneputzen, Frühstücken und sogar zum Anziehen der Schuhe. Heimlich aber, ich fand es vor Yurie etwas peinlich. Mir hätte es aber auch egal sein können, denn ich sehe sie in 3 Tagen eh nie wieder. Dennoch gibt es ja diesen Spruch: "Man sieht sich immer zweimal im Leben." Bitte nicht... Oder doch? Zur Zeit sind meine Gefühle ein einziges Chaos. Generell, so ein Austausch ist so mit Emotionen und Gefühlen verbunden und war damit manchmal echt eine Qual für mich. Jedenfalls ging ich an meinem letzten Tag antriebslos zur Schule und filmte auch viel vom Schulweg und vom Schulgebäude, so zur Erinnerung.
Ich fand es dennoch doof, dass ich selbst noch an meinem allerletzten Tag wie sonst immer regulär am Unterricht teilzunehmen hatte. Der Unterricht war halt wie immer... und obwohl Yamada-sensei, mein Klassenlehrer, morgens beim Short Homeroom offen und deutlich sagte, dass heute mein letzter Tag ist, behandelten mich meine Klassenkameraden halt wie immer und waren eher abweisend und kalt zu mir, also halt wirklich wie immer. Ich war es ja schon gewöhnt und es hätte wahrlich an einem Weltwunder gegrenzt, wären sie irgendwie anders zu mir gewesen. Eigentlich schon traurig, nicht?







Der Tag verstrich sehr langsam. Die Mittagspause war aber schön und traurig. Ich aß nämlich wieder mit Yurina zu Mittag im Speisesaal und der Abschied fiel mir sehr schwer. Sie ist mir in der kurzen Zeit hier so unglaublich wichtig geworden.



Ich hatte viel Spaß mit ihr und werde sie sehr vermissen. Wäre sie nicht gewesen, wäre die Motivation, noch in Japan zu bleiben, nicht so groß gewesen. Von ihr bekam ich zum Abschied noch Briefe, einen sehr niedlichen Schlüsselanhänger und Kekse. Ich habe mich sehr darüber gefreut und sogar ihre Mutter hat mir eine Karte geschrieben und mich eingeladen, dass wenn ich wieder in Japan bin, gerne zu ihnen nachhause kommen kann. Das werde ich auch dann auch machen 2017. Nach der Mittagspause hatte ich Sport und ich ließ mit Absicht meine Sportsachen zuhause, weil ich erstens nicht so viel mit zur Schule bringen wollte, da ich später nach der Schule eh noch so einiges wie Schulbücher zu schleppen hatte und zweitens, weil ich keinen Sinn mehr darin sah, für eine Stunde noch mitzumachen. Also saß ich am Rand auf dem Sportplatz draußen und sah ihnen zu. Sie machten Vorbereitungen für das kommende Sportfest, an dem ich nicht mehr teilnehmen würde. Ich saß also am Rand, erst allein, bis ich Besuch bekam von einem Schüler der 12. Klasse. Wir redeten nur kurz, er sagte mir, dass er mich liebt. Da er nicht allein war und die Leute hinter ihm lachten, ich außerdem nie zuvor mit ihm geredet habe, wusste ich, dass er mich nur auf den Arm nehmen wollte. Witzig war es dennoch. Auch während des Unterrichts filmte ich kurz, einmal erst mit Misserfolg, das nächste Mal klappte es aber. Die letzte Stunde war ganz gut wie immer, ich mochte Hiiro-sensei sehr. Er unterrichtet moderne Literatur, selbstverständlich auf Japanisch. Verstanden habe ich es nie wirklich zu 100%, dennoch habe ich es immer geliebt, all die Kanji abzuschreiben. Generell liebe ich es, Kanji zu schreiben. Vor allem habe ich immer gern alle 47 japanischen Präfekturen mit all ihren Kanji einfach so aufgeschrieben, weil ich es eben kann. Nach dem Unterricht hieß es, zunächst von meiner Klasse Abschied zu nehmen. Yamada-sensei holte mich plötzlich nach vorn und erklärte mir, dass ich eine kurze Rede vor allen zum Abschied halten soll. Ich war nicht vorbereitet, es kam sehr plötzlich und es war mir auch etwas peinlich, also wollte ich nicht nach vorne gehen, aber Yamada-sensei bestand darauf. Ich ging also widerwillig zum Lehrerpult und erst fiel mir nichts ein, was ich hätte sagen können, denn richtige Freunde habe ich nicht in meiner Klasse, also bedankte ich mich für die Zeit miteinander und meinte noch so etwas wie dass ich mich auf das nächste Treffen miteinander freue. Erst wollten sie gar nicht applaudieren, was auch einerseits verständlich war, andererseits mich etwas traurig gemacht hätte, doch wiederwillig taten sie es. Von Miyabi, der Klassensprecherin, die am ersten Schultag direkt auf mich zukam und bei der ich dachte, dass wir gute Freunde werden können, bekam ich zum Abschied ein selbst gemachtes, kleines Geschenk von meiner ganzen Klasse. Eine Tafel, die eigentlich in der Kalligraphie benutzt wird, nur nicht mit einem Pinsel geschriebenen Kanji beschriftet, sondern mit kleinen Nachrichten von all meinen Klassenkameraden an mich. Dennoch war der Inhalt der Nachrichten hauptsächlich identisch, somit stand um die vierzig Mal dasselbe auf der Tafel. Auch klebte unter den Nachrichten unser allererstes Klassenfoto gemeinsam, welches an meinem ersten Schultag aufgenommen wurde. Seitdem hatte ich es nicht mehr zu Gesicht bekommen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nicht einmal meine Schuluniform, Nostalgie...
Ich bedankte mich mehrfach und bekam beim Zusammenschieben der Tische noch Süßigkeiten von Chihiro aus meiner Klasse in die Hand gedrückt, wir machten alle zusammen zum Abschied noch ein Foto.



Danach ging ich das letzte Mal zum Kunstclub und sie planten eine Abschiedsparty für mich. Wir aßen viele Süßigkeiten, wir machten zum Abschied noch ein Gruppenfoto und vom Clubchef Moe bekam ich zum Abschied ein selbst gemachtes Album mit süßen Nachrichten und selbst gezeichneten, unglaublich guten Zeichnungen.



Ich war sehr glücklich.
Später lief ich noch alleine auf den Gang raus und filmte mit meinem Handy noch Teile der Schule. Dabei lief ich noch an der 2-5 vorbei, der Klasse von meinen Freundinnen Arisa, Mayuko und Mayu, die direkt gegenüber meiner Klasse, der 2-6, liegt. Ich schaute kurz heimlich rein und sah Arisa ein Bild an die Tafel malen. "Goodbye, CELIN", stand dort und ich konnte mich noch erfolgreich, ohne bemerkt zu werden, hinausschleichen. Später, nach dem Kunstclub, ging ich mit ihnen dann nachhause, in dieser Hitze und mit dem vielen Gewicht, welches ich zu tragen hatte, war es nicht so angenehm, zum Bahnhof zu Fuß zu gehen. Das Tafelbild hatte Arisa wieder entfernt. Ich hatte mich doch darauf so gefreut... Warum sie es wieder entfernte, weiß ich nicht. Wir standen gerade in der Nähe der Schule, als mir auffiel, dass ich eigentlich von meinen für das T-Shirt des kommenden Schulfestes gezahlten 5000¥ noch so um die 2000¥ wiederbekommen müsste, was ich zu dem Zeitpunkt aber nicht tat. 2000¥ sind immerhin um die 18€ und weil meine Freunde mich dazu antrieben, in der Schule deshalb anzurufen, tat ich es. Beziehungsweise tat es Arisa über das Handy von Mayuko. Das war witzig, vor allem als, während wir am Telefon warteten, eine kleine Melodie ertönte. Schließlich redete ich persönlich mit Yamada-sensei und er sagte mir, dass er das Restgeld zusammen mit dem T-Shirt zu mir per Post senden wird. Total lieb!
Also lief ich danach mit meinen Freunden zum Bahnhof Shin-Urayasu, wo wir unsere letzten Purikura gemeinsam aufnahmen.





Danach aßen wir noch Crêpe, wobei Mayuko und Arisa sehr müde aussahen.
Schließlich liefen wir noch zum Bahnhof, machten ein letztes Bild zusammen und ich verabschiedete mich von Mayu und Mayuko. Von Mayu erhielt ich noch einen Brief. Die Pose, mit der Mayu mir ihren Brief übergab, war total cool. Da Arisa und ich durch meinen Wechsel in eine andere Gastfamilie getrennt voneinander fahren mussten. Früher konnten wir das Stück bis Nishi-Funabashi immer zusammen fahren, da sie dort in den Zug in Richtung Ichikawa und ich in Richtung Kita-Narashino stieg. Am Bahnsteig wartete ich noch kurz mit ihr, verabschiedete mich und erhielt noch einen Brief. Ich werde sie so vermissen! Diesen Moment der Übergabe zögerte sie lange hinaus, doch ich hatte irgendwie schon im Gefühl, dass auch sie noch etwas für mich hatte. Total lieb. Vergessen werde ich sie drei definitiv nicht!



Jedoch war ich es nach wie vor etwas ungewohnt, nach vier Monaten den Zug in die andere Richtung zu nehmen. Ich konnte, obwohl von der Keiyo-Line minütlich Züge fahren, jedoch nicht jeden nehmen, sondern nur den einen in Richtung Soga, da Chiba-Minato, also die Station, an der ich umzusteigen hatte, nur vom Zug, der in Richtung Soga fährt, angefahren wird. Sonst gibt es noch Züge, die zum Beispiel nur bis nach Minami-Funabashi oder nach Kaihin-Makuhari fahren. Es war wirklich ungewohnt. Damals habe ich jeden, der nicht mit der Musashino-Line fahren muss, sehr beneidet. Ich mag die Musashino-Line bis heute nicht, denn von ihr kommt immer nur alle 20 Minuten ein Zug und nur sie fährt in Richtung Nishi-Funabashi, wo viele immer umsteigen, unter anderem auch ich damals. Aufgrund dessen, dass die Züge nur alle 20 Minuten kommen, sind diese immer unglaublich voll und man bekommt echt keine Luft dort. Diese zehn Minuten Zugfahren waren echt immer sehr schlimm und ich war froh, als diese vorbei waren. Also stieg ich dann in den Zug in Richtung Soga und kam irgendwann spät zuhause an. Sogar eigentlich zu spät, doch Yurie war eh wie immer wieder sehr lange auf der Arbeit. Kurz nachdem ich ankam und mich erstmal hinsetzte, gab es ein Erdbeben der Stufe 2, wie ich feststellte im Nachhinein. Jedoch nahm ich das Erdbeben gar nicht wahr. Wäre ich allerdings zu dem Zeitpunkt in meinem Zimmer gewesen, hätte ich es vielleicht schon wahrgenommen. In meinem Zimmer entging mir nie ein Erdbeben, selbst nicht so eines der Stufe 1 auf der Richterskala. Wie oft mich schon Erdbeben während der Zeit hier in Japan geweckt haben...



Nun, der Abend verlief wieder normal. Ich aß ein wenig Abendbrot, duschte dann später und da niemand zum Reden da war, ging ich dann hoch zu meinem Zimmer und verließ es später dann nur zum Fertigmachen fürs Bett. Ich fühle mich zur Zeit in dieser Familie eh nicht so wohl und es schien sie auch nicht zu stören, nur wenig mit mir zu reden. Von Baaba (Gasturgroßmutter) fehlte wieder jede Spur, sie ist wohl noch in Kamagaya.

Ich gehe nun ins Bett. Heute war ein sehr langer Tag.
Morgen geht es wahrscheinlich nach Shibuya.

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